Lutz Jäkel
Das Ende der Pandemie? Ein Tag der Freiheit?
Reportage Erneut haben Tausende von Demonstrantinnen und Demonstranten in Berlin gegen die Corona-Politik demonstriert. Und erneut war es ein sehr heterogener und skurriler Protest aus Impfgegnern, Verschwörungsideologen, Linken, Rechtsextremen, Reichsbürgern, Techno-Fans und Latte-Macchiato-Muttis mit ihren Kindern. Ein Erfahrungsbericht.

"Tja, liebe Leute... was soll ich euch sagen?"
So hatte ich meine kleine Reportage am 10. Mai über die Corona-Demo in Berlin eingeleitet. Und so kann ich auch diese Reportage einleiten über Demo, zu der die Stuttgarter Initiative "Querdenken 711" am 01. August in Berlin aufgerufen hatte und auf der Menschen gegen die Vorsichtsmaßnahmen demonstriert haben, die uns bisher in Deutschland verhältnismäßig - vor allem im internationalen Vergleich - so gut durch die Pandemie gebracht haben.
Damals zitierte ich einen Artikel aus dem SPIEGEL: "Das Virus vereint Menschen im Protest, die bislang wenig gemeinsam und kaum etwas miteinander zu tun hatten. Rechtsextremisten, Impfgegner, Antisemiten, Verschwörungsideologen, Linksradikale, Alt-Autonome und Esoteriker. Und ganz normale Bürger, denen politisches Engagement bislang eher fremd war."
All diese Gruppen waren auch dieses Mal wieder unterwegs. Nur: Sie demonstrierten nicht nur gegen die Corona-Maßnahmen, sie feierten das "Ende der Pandemie" und den "Tag der Freiheit". Als sei alles vorbei und überstanden. Dass wir noch mitten in der Pandemie sind, ficht diese Menschen nicht an. Oder anders gesagt: Sie glauben ohnehin nicht an die Gefahr, also erkennen sie auch nicht den Sinn der Vorsichtsmaßnahmen oder unterliegen dem Präventionsparadox.
Doch ihre Strategie war eine etwas andere als im Mai, sie traten, so mein Eindruck, sehr viel selbstbewusster auf, manche positionierten sich regelrecht vor meinen Kameras. Und als hätten sie sich abgesprochen (vielleicht hatten sie das auch), formten sie ständig Herzen mit ihren Händen, für die Gegendemonstranten, für die Polizei, für, hach, alle Menschen. Der "tagesspiegel" schrieb über die angekündigte Demo, es seien auch "rechtsoffene Esoteriker" dabei. Von ihnen habe ich sehr viele gesehen. Woran man rechtsoffene Esoteriker erkennt: Wenn sie Hand in Hand mit Rechten und Rechtsradikalen auf einer Demo unterwegs sind und sie sich nicht von ihnen deutlich abgrenzen. Luft-Herzchen zu verteilen, das genügt nicht. Diese Rechten und Rechtsradikalen waren nicht zufällig und plötzlich auf der Demo, sie hatten sich angekündigt.
Diese Mischung ist bisweilen skurril, ein Demonstrant hält ein interessantes Schild hoch: "Für Kultur, ohne Angst und Abstand." Was sollte man dagegen haben, der Mann hat recht. Hinter ihm geht ein Mann mit einer Reichsflagge. Das ist das Problem.
Eines vorweg: Das Demonstrationsrecht ist eines der wichtigsten Grundrechte unserer Demokratie, es muss auch in schwierigen Zeiten wie einer Pandemie gelten, das tut es auch, wie man in Berlin einmal mehr deutlich sehen konnte. Dieses Grundrecht war übrigens zu keiner Zeit außer Kraft gesetzt, genau so wenig wie die Meinungsfreiheit. Das Demonstrationsrecht ist allerdings, wie immer, an Auflagen gebunden. Während einer Pandemie sind diese Auflagen nach dem Infektionsschutzgesetz umso wichtiger, weil sie sogar Leben schützen können. Dagegen haben gestern fast alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer verstoßen.
Diese Menschen geben also vor, für die Freiheit aller auf die Straße zu gehen - und schränken damit die Freiheiten anderer ein, weil sie mit ihrem rücksichtlosen Verhalten andere Menschen in Gefahr bringen. Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller sagte, es ärgere ihn maßlos, dass Menschen aus anderen Teilen Deutschlands nach Berlin kämen, um hier ein Demonstrationsrecht auf Grundlage von Hygieneregeln wahrzunehmen, dass sie dann missachteten.
Es gab gestern unter den vielen Tausend Menschen nur drei Gruppen, die Masken trugen: Polizeikräfte, Pressevertreter und Gegendemonstranten. Sonst niemand.

Tausende Demonstranten ziehen also durch die Straßen Berlins, von einem LKW wummern Technobeats. Junge Leute feiern und tanzen im und vor dem LKW, dann skandieren sie: "Schließt - euch - an! Schließt - euch - an!" Gemeint sind die umstehenden Polizeikräfte, denn, so sagen sie immer wieder: "Wir gehen auch für euch auf die Straße. Stellt euch nicht gegen uns!" Die Melodie von Helene Fischers sehr bekannten Song "Atemlos" ist zu hören. Der Text ist ein anderer: "Maskenlos durch die Stadt, bis das ganze Land erwacht. Maskenlos, wir sind frei, denn Corona ist vorbei." Dann ruft jemand aus einem Megaphon in die Menge: "Haltet zusammen! Nehmt euch in den Arm! Lasst euch nicht unterkriegen!" Als die Demonstranten an der Leipziger Straße in die Mauer Straße einbiegen, stehen ihnen auf der anderen Straßenseite Gegendemontranten gegenüber, unter anderem die "Omas gegen Rechts", dazwischen die Polizei. Die Demonstranten werfen ihnen Luft-Herzchen zu, lachen, einige zeigen den Stinkefinger, dann rufen sie: "Nazis raus! Nazis raus!" Offenbar finden sie es lustig, die Parolen der Gegendemonstranten zu übernehmen.
Die ZDF-Reporterin Dunja Hayali stellt sich den Demonstranten, trägt Maske, spricht mit ihnen. Ein Kamerateam folgt, zwei kräftige Security-Männer schützen Hayali. Vor einigen Wochen wurde auf einer solchen Demo ein ZDF-Kamerateam angegriffen, es gab Verletzte. Dann steht Hayali manchmal einfach nur da, schaut zu den Demonstranten, schüttelt leicht mit dem Kopf und scheint nicht glauben zu können, was sie da sieht. Später sagt sie in einem Live-Video auf ihrem Instagram-Kanal: "Es ist eine gefährliche Melange, die sich hier auf der Straße zusammenfindet."
Eine ältere, elegant wirkende Dame zeigt freudestrahlend auf ihr T-Shirt, darauf eine Friedenstaube, eingerahmt von einem Herzen. Neben ihr steht ein Mann, er hält ein Deutschlandfähnchen in der Hand und zeigt demonstrativ Richtung Gegendemonstranten auf seine AfD-Tasche. Eine Frau trägt ein T-Shirt mit dem Slogan: "Zuckerbrot ist aus." Dann folgt also jetzt die Peitsche? Auf einem großen Banner steht ein Q, das Erkennungszeichen der Q-Anon-Bewegung, also für Menschen, die tatsächlich glauben, dass Prominente und Politiker, vor allem in den USA, Kinder entführen, sie an geheimen Orten festhalten, um sie zu foltern, zu töten und ihr Blut zu trinken. Solche Q-Anon-Gläubige laufen mit durch Berlin.
Etwas später am Brandenburger Tor. Junge, freundliche Herren verteilen von einem Bollerwagen aus das rechtsradikale Compact-Magazin, das vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Ein paar Meter weiter bespaßt ein Seifenblasenkünstler Kinder, die haben sichtlich Freude daran. Zwei junge Frauen tragen T-Shirts, darauf ist zu lesen: "Angst manipuliert - Mäh, Mäh, Mäh", eine Anspielung auf die Schlafschafe, wie Coronaleugner diejenigen bezeichnen, von denen sie meinen, sie seien noch nicht erwacht, sondern die sich noch immer von den "Mainstreammedien" instrumentalisieren lassen. Daneben stehen Vertreter der "Deutschen Duchenne Stiftung", die zusammen mit Eltern und ihren Kindern aufmerksam machen wollen auf die unheilbare Krankheit "Duchenne-Muskeldystrophie", die Kinder ab acht Jahren an den Rollstuhl fesselt. Eine ganz besondere Risikogruppe während der Pandemie also. Die Gruppe verteilt Flyer, wird aber nur von wenigen Menschen beachtet.
Schließlich stehen die Demonstranten zu Tausenden auf der Straße des 17. Juni vor der Bühne, auf der die inzwischen bekannten Coronaleugner, Coronaverharmloser und sonstige Verschwörungsideologen versammelt sind: Unter anderen Ralf Ludwig und Bodo Schiffmann, beide Gründer der Bewegung Widerstand2020, die eine Partei werden sollte, deren Protagonisten aber sich so zerstritten haben, dass daraus nichts wurde. Heiko Schrang steht da, über 180.000 Abonnenten auf YouTube, der Bücher mit dem Namen "Die GEZ-Lüge" und "Die Jahrhundertlüge" im Eigenverlag publiziert hat, er feuert das Publikum an, einige Demonstranten tragen seine T-Shirts mit dem Slogan "erkennen. erwachen. verändern". Direkt vor der Bühne sitzen einige im Lotussitz und meditieren. Bodo Schiffmann hat sich dazugesetzt.
Auch zu sehen ist der Pressesprecher der "Querdenken 711" Bewegung, Stephan Bergmann. Er hält das Coronavirus für ein "Fake-Virus". Bergmann ist außerdem Trance-Coach, Trommelbauer und Sonnentänzer, er zieht durch die Reihen der Demonstranten mit seinen Jüngern, trommelnd, rhythmisch, sie singen, viele stimmen ein. Bergmann trägt ein rotes T-Shirt, auf dem Ärmel steht "Der Frieden beginnt im eigenen Herzen", auf dem Rücken: "In mir brennt das Feuer der Liebe." Aber Bergmann hat Herz und Liebe nur für bestimmte Menschen. Auf seiner FB-Seite warnt er vor der "Vermischung der Rassen auch mit Zwangsmaßnahmen" oder der Züchtung einer "hellbraunen Rasse in Europa", er teilt Posts verschiedener rechtsextremer Plattformen und Bilder, auf denen sich über Asylbewerber oder verschleierte Muslime lustig gemacht wird. Dieser Bergmann ist Pressesprecher der Initiative.

Als ein Sprecher der Polizei unter Buhrufen und Gegröle erklärt, dass die Demonstration wegen Verstoßes gegen die Auflagen aufgelöst werde, sagt Bergmann zu ihm: "Werde ein Held, schreib Geschichte, indem du dich uns anschließt". Auf diversen Facebook-Profilen wird nun behauptet, der Polizist habe geweint, so gerührt sei er wohl gewesen. Äh, nein. Ich habe das Video gesehen, der Mann ist bewundernswert gefasst, wenn man etwas in seinem Gesicht lesen möchte, dann vielleicht: "Boa, womit habe ich das verdient, hier stehen zu müssen?"
Die Demonstration soll aufgelöst werden, es dürfen keine Reden mehr gehalten werden. Einige Verantwortliche der "Querdenken 711" Bewegung werden von der Polizei von der Bühne getragen. Pfiffe, Buhrufe. Bodo Schiffmann darf, warum auch immer, weiterhin vor der Bühne auf einem Podest im Schneidersitz sitzen, offenbar gedanklich tief versunken, wie ein Guru, was durch die anderen Teilnehmer neben ihm in Lotussitzhaltung und meditierend noch unterstrichen wird. Die Demonstranten rufen "Wir-bleiben-hier!", "Wir-blei-ben-hier!" und machen keine Anstalten, das Gelände zu verlassen, trotz mehrfacher Aufforderung durch die Polizei. Eine Polizistin spricht eine meditierende Frau auf der Bühne an, die hält sich beide Hände auf ihr Herz und ignoriert die Ansprache der Polizistin. Dann wird die Meditierende von zwei Polizistinnen weggetragen, wieder Buhrufe, sie ist wohl jetzt eine Heldin. Bodo Schiffmann schaut derweil stoisch in die Menge, als ginge ihn das alles nichts an. Fast könnte man meinen, er sei gelangweilt.
Mehrfach stimmt Bodo Schiffmann die Nationalhymne an, immerhin: Die erste Strophe war es nicht. Nach dem gemeinsamen Singen: Jubelschreie! Ein Sprecher sagt: "Vor dreißig Jahren haben hier auch die Menschen gestanden. Und, ja, es erinnert alles wieder an die DDR!". Jubel und Klatschen aus den Reihen der Demonstranten.
Tänzer, Trommler ziehen erneut durch die Reihen, Räucherstäbchenduft liegt in der Luft, mitten im Gedränge steht ein alter Mann, trägt ein Schild, vorne steht: "Stuttgart 21 grüßt Berlin." Hinten steht: "Chaos. Diktatur. Untergang." Zwischen der Menge ragt ein großes Bild hervor mit einen bekannten Porträt: Mahatma Gandhi.
Man möchte sich manchmal die Augen reiben.

Ein älterer Herr spricht mich an, ich bin durch meinen Presseausweis und mein Presseschild auf meiner Kameratasche erkennbar. Der Mann ist freundlich, fragt mich, für wen ich fotografiere. Als ich sage, für eine Agentur, fragt er mich, wie mein Eindruck sei, ob das, was ich dort sehe mit dem übereinstimme, was ich wohl nachher in der Tagesschau sehen werde. Ich sage ihm: "Was ich hier sehe, in Zeiten einer globalen Pandemie, diese Rücksichtslosigkeit und Unbekümmertheit, und diese grundsätzlichen Zweifel an den Grundwerten unserer Demokratie erschreckt mich zutiefst." Der Mann sagt: "Wenn man an das Virus und an die Zahlen glaubt, muss man das wohl so sehen." Ich bin weitergegangen.
Man muss so etwas wirklich mal erlebt haben, um zu verstehen, was in unserem Land möglich ist. Und was hier passiert. Denn diese Mischung verschiedenster Gruppen von Demonstrantinnen und Demonstranten ist kein Spaßhaufen, auch wenn man manchmal den Eindruck bekommen kann, vor allem wenn sie tanzen und lachen. Aber es ist kein Spaß, sich so zu verhalten in einer Pandemie. Im besten Fall sind sie naiv. Im schlimmsten Fall wissen sie, was sie tun. So oder so, diese Mischung ist hochgefährlich für unsere Demokratie, gerade weil sich hier Menschen mit berechtigten Sorgen zusammentun mit Menschen, die eben an jener Demokratie zweifeln, sich an die DDR erinnert fühlen (in der sie nie so laut hätten schreien und zweifeln dürfen) oder unsere Demokratie aushöhlen, verändern oder gar abschaffen wollen. Jene demokratiegefährenden Menschen werden damit aber aufgewertet, sie bekommen eine Legitimität, die ihnen nicht zusteht.
Was aber in Zeiten einer Pandemie am schlimmsten ist: Durch ihre Nachlässigkeit und Ignoranz gefährden sie das Leben anderer Menschen. Wem das egal ist, braucht auch keine Herzchen verteilen. Text & Fotos © Lutz Jäkel #corona #coronademos #berlin #b0108 #verschwörungen