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  • AutorenbildLutz Jäkel

Das letzte Foto aus Syrien


Der Berg Qasiyun in der syrischen Hauptstadt Damaskus
Der Berg Qasiyun in der syrischen Hauptstadt Damaskus

Es wirkt auf mich beruhigend, unschuldig. Dabei hat es so viel Bedeutung. Es zeigt den "Dschabal Qasiyun" am frühen Morgen, den rund 1000 Meter hohen Berg in Damaskus, ein Wahrzeichen der syrischen Hauptstadt, ein beliebter Ausflugsort, vor allem in den Abendstunden. Ein Berg voller Legenden: Hier soll Kain den Abel erschlagen haben, es sei, so erzählt man bis heute, der Geburtsort Abrahams, den die Araber Ibrahim nennen. Und sogar Moses soll hier begraben liegen. Unweit dieses Berges liegt die Altstadt, in der, wieder eine Legende, der Christenhasser Saulus sein Erweckungserlebnis hatte, weil ihm vor den Toren der Stadt Jesus erschien. Fortan wurde Paulus, wie er seither genannt wird, zum bedeutendsten Missionar für das frühe Christentum.

Ich zeige dieses Foto in meiner Live-Reportage und erzähle die Geschichte dazu. Fotografisch ist es wenig spektakulär. Aber für mich persönlich ist es wie ein Schatz. Denn es ist das letzte Foto, das ich in Syrien gemacht habe. Es entstand am 17.03.2011.

Heute vor zehn Jahren.

Dass es das - vorerst - letzte Foto sein sollte, wusste ich damals noch nicht. Wenige Tage zuvor hatten Kinder, ermutigt durch TV-Berichte über den sogenannten "Arabischen Frühling", in der südsyrischen Stadt Daraa regimekritische Slogans an Hauswände gemalt. Die Kinder wurden verhaftet, gefoltert. Die verzweifelten Eltern verlangten die Freilassung ihrer Kinder, die örtlichen Behörden lachten sie aus und sagten: "Macht halt neue."

Davon hatte ich nichts mitbekommen in Damaskus. Solche Nachrichten verbreiten sich nicht so schnell in einem autoritären Staat. Aber ich hatte mit syrischen Freunden über die Proteste in anderen Ländern gesprochen, über den Sturz der Diktatoren in Tunesien, in Ägypten. Auch in Libyen bröckelte es bereits. Ich fragte sie, nicht wirklich ernst gemeint: "Na, und bei euch, hier in Syrien, wann gehen die Menschen hier auf die Straßen?" Meine syrischen Freunde winkten ab, waren überzeugt: "Bei uns, in Syrien? Habibi, was soll in Syrien schon passieren?"

In Syrien sprach man eigentlich nie offen über Politik, schon gar nicht über das Regime. Auch nicht unter Freunden. Es war zu gefährlich, die Mukhabarat, die Geheimdienste, waren immer präsent. Vielleicht war es der eigene Freund. Daher wusste ich auch nicht, ob dieses Abwiegeln meiner Freunde Resignation war oder Angst. Oder beides. Aber ich merkte, dass sich niemand wirklich so etwas wie in Tunesien oder Ägypten vorstellen konnte. Den Diktator stürzen, durch friedliche Proteste?

An jenem 17.03.2011, auf den Tag vor zehn Jahren also, stieg ich ins Flugzeug zurück nach Deutschland, schaute auf die unter mir liegende Stadt und war mir sicher: Bald kommst du wieder, so wie in den letzten zwanzig Jahren auch. Syrien war mir in dieser langen Zeit wie zu einer zweiten Heimat geworden. Ich war häufig in diesem Land, beruflich wie privat, 1998 hatte ich fast ein Jahr in Damaskus gelebt, war fasziniert, manchmal fast berauscht vom Land und seinen Menschen. Immer wieder habe ich als Studienreiseleiter Interessierte aus Deutschland, Österreich oder der Schweiz durch das kulturell, historisch und menschlich so reiche Land geführt, versucht, auch so meine Faszination weiterzugeben. Ich habe Freunde dort.

Aber es kam alles anders, ich sollte nicht so schnell wieder zurückkommen können in das schöne Syrien. Denn Syrien zerfiel. Es zerfällt bis heute.

Nach den Verhaftungen der Kinder von Daraa kam es zu Protesten, zunächst in Südsyrien, dann auch in Teilen von Damaskus, vor allem in der weiter nördlich gelegenen, drittgrößten Stadt des Landes, in Homs. Bald in ganz vielen Orten Syriens. Die Menschen gingen auf die Straßen, sie protestierten, schrien ihren Frust heraus über jahrzehntelange Diktatur, Unterdrückung, staatliche Willkür, gegen die Folterkeller. Sie schrien nach Reformen, Freiheit, Gerechtigkeit. Irgendwann auch für einen Wechsel des Regimes, etliche für Demokratie.

In Homs gingen die Menschen jeden Freitag auf die Straßen, immer mit der Gefahr und im Bewusstsein, jederzeit erschossen zu werden. Denn das Regime wollte keine Proteste, auch keine friedlichen, es wollte und will nur eines: Unterwerfung, Gehorsam. Tun sie das, werden die Menschen in Ruhe gelassen, aber auch nur dann.

Wozu das Regime unter Baschar al-Assad fähig ist, sehen wir seit nunmehr zehn Jahren.

Mit brutaler Gewalt, mit Bomben, Fassbomben und sogar Giftgas auf Wohnviertel, Krankenhäuser, Schulen und Märkte versucht das Regime sich mit allen Mitteln an der Macht zu halten. Um den Konflikt selbst anzuheizen, um sich dann als "Retter" inszenieren zu können, entließ das Regime schon im Sommer 2011 Dschihadisten und Al-Qaida-Kämpfer aus syrischen Gefängnissen, die sich dann dem bewaffneten Kampf anschlossen, das Regime schoss zurück, der Konflikt eskalierte. Es folgten weitere Islamisten aus dem Ausland, der IS erstarkte, die vielen zivilen Oppositionsgruppen gerieten zwischen die Fronten, ab 2014 intervenierte die Anti-IS-Koalition unter Führung der USA, 2015 kamen russische Streitkräfte zur Unterstützung Assads hinzu, der Iran und die schiitische Hisbollah intervenierten, Saudi-Arabien und Qatar finanzierten sunnitische Islamisten, die Türkei versuchte mit Interventionen im Osten und Nordwesten Syriens einen Kurdenstaat zu verhindern... man verliert den Überblick.

Syrien ist zu einem Stellvertreterkrieg geworden, alle internationalen Akteure haben ihre Finger in diesem schmutzigen Krieg. Deswegen gibt es in Syrien auch keinen Bürgerkrieg, auch wenn das bis heute viele Medien noch immer so nennen. Sondern einen brutalen internationalen Krieg.

Und mittendrin Millionen von Syrerinnen und Syrern. Über 500.000 Menschen sind ums Leben gekommen, die Hälfte der Bevölkerung ist auf der Flucht, rund 6.000.000 innerhalb des Landes, rund 6.000.000 sind ins Ausland geflohen, die meisten von ihnen in die Nachbarländer Türkei, Jordanien und Libanon - und nicht nach Europa, wie oft von Populisten und Flüchtlingsgegnern behauptet wird.

Große Teile des Landes liegen in Trümmern, vor allem die Städte Homs und Aleppo, jene bedeutende Handelsstadt, die früher an der Weihrauch- und Seidenstraße lag. Etwa 90 (!) Prozent der Syrerinnen und Syrer leben in Armut, mehr als die Hälfte von ihnen sind für ihr Überleben auf die Unterstützung von Hilfsorganisationen angewiesen, humanitäre Hilfen, die vom Regime bewusst behindert werden. Denn das brutale Kalkül: Je mehr die Menschen leiden, umso eher geben sie auf. Daher nein, dass so viele Menschen hungern müssen, liegt nicht an den Sanktionen, denn Lieferungen von Lebensmitteln und Medikamenten fallen nicht darunter. Die meisten notleidenden Syrerinnen und Syrer überleben überhaupt nur Dank westlicher humanitärer Hilfe, die zu achtzig Prozent aus Europa kommt, die größten Hilfen leisten Deutschland und die USA.

Millionen von Kindern können nicht zur Schule gehen, wir werden eine verlorene Generation zu beklagen haben.

Zehn Jahre Konflikt und Krieg in Syrien, so viel Leid. Die UNO spricht von der größten humanitären Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg und von der schlimmsten Flüchtlingskrise seit dem Völkermord in Ruanda in den 1990er-Jahren. Und trotzdem zuckt die Weltgemeinschaft nur noch mit den Schultern. Was für eine Tragödie.

In diesen Tagen rückt Syrien wieder mal ein bisschen in den medialen Fokus. Aber ist das nicht auch tragisch, sogar zynisch? Syrien wird ja nicht wahrgenommen, weil das Schicksal des Landes und der Menschen berührt. Sondern weil es nun mal zehn Jahre her ist, dass der Konflikt begann. Da ploppen dann Erinnerungsglöckchen bei Redaktionen auf.

Aber ich tue das mit diesem Beitrag natürlich auch. Selbstverständlich tue ich das, denn wir dürfen die Menschen nicht alleine lassen mit ihrem unvorstellbaren Leid.

Und eines Tage, so hoffe ich, werde ich wieder nach Syrien reisen, um zu sehen, was aus meinem geliebten Syrien geworden ist. Ich habe schon jetzt Angst vor diesem Tag...

 

Wer sich noch weiter beschäftigen möchte mit Syrien: In der ARTE Mediathek findet sich eine ganze Reihe interessanter, aufschlussreicher, aber auch berührender Reportagen und Dokus: Syrien: Der Albtraum dauert an - Aktuelles und Gesellschaft | ARTE


Der Journalist Christoph Reuter, ein Co-Autor unseres Textbildbandes über Syrien, hat im aktuellen SPIEGEL über zehn Jahre Konflikt und Krieg eine Reportage geschrieben.


Und wer sich für das Syrien vor dem Krieg interessiert, wer die Menschen näher kennenlernen möchte, denen ich in zwanzig Jahren begegnet bin, sollte am 23.03.2021 in den Live-Stream von WeltundWir reinklicken, dort berichte ich live von diesen Begegnungen: Erdanziehung // Traum und Abenteuer Stream - #14 SYRIEN (weltundwir.de)

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