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  • AutorenbildNadine Pungs

Die Gesellschaft des Verdachts

In Zeiten von Corona wächst das Misstrauen. Untereinander. Was macht es mit einer Gesellschaft, wenn von jedem Menschen eine potenzielle Gefahr ausgehen könnte? Ist es bloß Rücksicht, die uns auf Bürgersteigen einen Bogen umeinander gehen lässt, oder ist es der Verdacht?


Neulich ist es mir wieder passiert. Auf einem schmalen Bürgersteig kam mir eine Frau entgegen, sie trug keinen Mund-Nasen-Schutz, weil es in dieser Stadt an dieser Stelle nicht vorgeschrieben und auch nicht unbedingt notwendig war. Und was habe ich gemacht? Ich wechselte die Straßenseite. Ganz selbstverständlich. Später dachte ich darüber nach. Ich kannte diese Frau nicht, und dennoch verdächtigte ich sie unbewusst, dass sie vielleicht das Virus in sich tragen könnte. Das Gleiche geschieht umgekehrt. Manchmal wenden sich Menschen – ob mit oder ohne Maske – von mir ab, wenn sie mir begegnen. Sie machen einen Bogen. Aus Rücksichtnahme? Damit ich mich sicherer fühle? Oder weil auch sie mich verdächtigen, Virusträger zu sein? Schwierig.

Vor einem Jahr zu Beginn der Pandemie war die Stimmung eine andere gewesen. Damals lag noch ein Lächeln in den Augen. Man nickte sich konspirativ zu, vereint im Schicksal, das man ab jetzt gemeinsam zu schultern hatte. Da war Verbundenheit, auch im Abstand. Doch heute scheint mir, bindet die Verbundenheit nicht mehr ganz so stark. Die Distanz wird größer. Zwischen den Herzen. Besonders auffällig ist das in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Wenn wir dicht an dicht gedrängt beieinanderstehen, verfluchen wir unseren Nebenmann, dass er nicht daheim geblieben ist. Warum fährt der überhaupt durch die Gegend? Es ist doch Pandemie! Dabei sind wir ja selbst unterwegs.

In der Straßenbahn atme ich stets flacher. Weil ich mir einbilde, somit weniger Aerosole der anderen Fahrgäste zu inhalieren. Ich drehe meinen Kopf zum Fenster und bebe innerlich vor Empörung, wenn jemand hinter mir hustet. Und ich freue mich diebisch, wenn eine Nacktnase (Mensch, der seine Maske unter dem Kinn trägt) von den Kontrolleuren erwischt wird. In mir ist keine Leichtigkeit mehr. Ich will so nicht sein. Dieses ständige Misstrauen macht unglücklich. Es baut Mauern aus Wut. Zugleich fehlen die Umarmungen von Freunden, die Wangenküsse, das Köpfezusammenstecken – im wahrsten Sinne. Die Folge: Die Gesellschaft wird gereizter. Auch ich. Oder sie wird nachlässig. Beides ist nicht gut.


Und ich frage mich, wie wir nach der Pandemie miteinander umgehen werden? Endet dann der Verdacht? Mögen wir uns wieder? Sind wir tatsächlich rücksichtsvoller? Empfindsamer? Liebevoller? Ich weiß es nicht, aber ich hoffe es sehr. © Text Nadine Pungs | Cartoon Guido Kühn #corona #coronakrise #mns #maskentragen #masken #gesellschaft

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