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  • AutorenbildLutz Jäkel

Fremdes so vertraut

Kolumne


Es ist, zugegeben, sehr lange her, aber ich erinnere mich noch gut daran. Durch den Beruf meines Vaters sind wir 1975 nach #Istanbul gezogen. Wir hatten eine hübsche Wohnung, sie hatte einen wunderbaren Blick auf den Bosporus. Wir waren gerade eingezogen, standen auf dem Balkon, genossen den Blick - als plötzlich diese merkwürdige, für uns völlig ungewohnte Stimme ertönte, dieses Krächzen, so hatten wir das damals empfunden. Nicht weit von unserer Wohnung entfernt, in einem Tal zwischen den Stadtteilen Etiler und Bebek, stand eine Moschee. Der Muezzin rief zum Gebet. Meine Eltern waren ziemlich irritiert. Nein, sie waren schockiert. Meine Mutter hatte wohl so etwas ähnliches gesagt wie "Ach herje, müssen wir das jetzt jeden Tag hören?"


Einige Jahre später, 1980 während des Militärputsches, mussten wir Istanbul verlassen. Wir liebten inzwischen diese Stadt! Die wenigen Jahre in der Türkei waren für mich mit die wichtigsten meiner Kindheit. Vermutlich sind sie mit ein Grund für das, was ich heute mache, beruflich wie privat, auch in meinem politischen Engagement. Auch für meine Eltern war es eine wunderbare Zeit, auch für sie war die Türkei wie eine zweite Heimat geworden, das empfinden sie teilweise heute noch so.

Und was hatten wir zuerst vermisst, als wir wieder in Deutschland waren? Den #Gebetsruf des Muezzins. Er war Teil unseres Lebens im Ausland geworden, wo wir uns so wohl gefühlt hatten. Aus dem zunächst Fremden wurde etwas sehr Vertrautes.


Das geht mir bis heute so. Ich bin kein gläubiger oder religiöser Mensch bin, ganz im Gegenteil, ich bin ein überzeugter Atheist. Und dennoch löst der Ruf des Muezzins in mir ein beruhigendes Gefühl aus. Es ist ein bisschen Heimat. Vermutlich exakt das Gegenteil dessen, was viele Nichtmuslime empfinden, wenn sie diesen Gebetsruf zusammen mit "Allahu Akbar" hören. Sie haben ganz andere Assoziationen. Allahu Akbar! Ist das nicht der Schlachtruf der Islamisten? Nein. Es ist zunächst nur die ausgerufene Überzeugung, dass es nicht größeres gibt als Gott, der auf arabisch Allah heißt.

Als ich während des Studiums in #Damaskus lebte, bin ich oft am Freitag in die wunderschöne #Umayyaden-Moschee in der Altstadt gegangen, habe mich in den Hof gesetzt, manchmal auch in den Gebetsraum, und habe die Menschen beobachtet. Vor allem habe ich den Rufen der Muezzine gelauscht. In der Umayyaden-Moschee sind es, vor allem am Freitag, mehrere, die einen angenehmen Singsang anstimmen, bevor die eigentliche Predigt und das Gebet beginnen. Die Muezzine von Damaskus sind berühmt für ihre schönen Stimmen. Es ist lange her, die technische Qualität nicht vergleichbar mit dem, was heute möglich ist. Aber ich hatte damals diese Stimmen auf einem Rekorder aufgezeichnet. Als ich vor wenigen Jahren meine Syrien Live-Reportage konzipierte, habe ich diese Aufnahmen wiederentdeckt, ich hatte vergessen, dass ich das habe. Als ich sie hörte, waren sie sofort wieder da: Die Erinnerungen an die Kindheit in der Türkei, das Leben in der Altstadt von Damaskus.

So wurde aus dem einst fremd Klingenden etwas so Vertrautes, dass es sogar schöne Gefühle auslösen kann.

Ich habe diese Audiospur von den Gesängen in Damaskus (nicht der eigentliche Gebetsruf) zusammen mit Fotos von mir in einem Video zusammengefügt. Sehr häufig hört man sie singen: "Haya ala Salaat!", "Auf zum Gebet!"





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