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  • AutorenbildLutz Jäkel

Geflüsteter Gebetsruf


2 Minuten, 36 Sekunden.

So lang - oder so kurz - dauerte der Gebetsruf des Muezzins an der Ditib-Moschee in Köln Ehrenfeld am 14. Oktober 2022. Ausgerufen aus zwei kleinen Lautsprechern, nicht lauter als 60 Dezibel, Gesprächslautstärke, so war es in monatelanger Planung vereinbart. Vor der Moschee gibt es eine fünfspurige Straße, über die täglich PKW und LKW vorbeidonnern, der Gebetsruf wird zum Flüsterton, wenn überhaupt. Das Echo auf diesen Muezzinruf hingegen war ohrenbetäubend laut, vor allem das mediale und das der Expert:innen zum Thema.

Wenn ich einiges dazu lese und höre, frage ich mich wirklich: Warum dieses Geschrei? Sind wir nicht längst viel weiter? Antwort: Offenbar nicht.

Selbstverständlich sollte man es kritisch sehen oder zumindest in der Beurteilung berücksichtigen, dass die Moschee der Ditib angehört, also jenem Verband, der der türkischen Religionsbehörde Diyanet untersteht und als Regierungs- und damit als Erdoğan-nah gilt. Da Erdoğan sich zunehmend autokratisch und antidemokratisch zeigt, sollte man daher ein Auge darauf haben. In Deutschland gehören rund 900 Moscheen der Ditib an.

Aber was müssen wir jetzt über diesen speziellen Gebetsruf nicht alles lesen? Der Islamismusexperte Ahmad Mansour zum Beispiel warnt davor, diesen "Muezzin-Ruf nicht als Ausdruck von Toleranz und Religionsfreiheit zu vermarkten". Der Ruf stelle vielmehr "eine Machtdemonstration des politischen Islam dar, der in erster Linie daran interessiert ist, mehr Sichtbarkeit in Deutschland zu bekommen, um Einfluss auf unsere Politik und Gesellschaft zu nehmen", schreibt Mansour in einem Gastbeitrag bei Focus-Online.

Mansour setzt also mehr Sichtbarkeit - in diesem Fall könnte man sagen: mehr Hörbarkeit - gleich mit Einfluss auf Politik und Gesellschaft. Warum, frage ich, sollte das zwangsläufig so sein, zumal Mansour diesen Einfluss negativ sieht? Es kann, muss aber nicht. Immerhin fragt Mansour an anderer Stelle im Gastbeitrag:

"Ereignisse wie der Muezzin-Ruf in Köln sind doch ein wunder Punkt für jeden Europäer. Sie zwingen ihn dazu, über seine eigene Identität nachzudenken und eine Entscheidung treffen zu müssen: Ist Europa christlich? Säkular? Welche Identität will Europa für sich nach außen transportieren?"

Darauf kann man ganz einfach antworten: Europa ist christlich. Und säkular. Und atheistisch. Und natürlich auch muslimisch, mit rund 7 Prozent Bevölkerungsanteil an der Gesamtbevölkerung von rund 700 Millionen Menschen. Daher kann man es auch so sehen: Mehr Sichtbarkeit kann gerade identitäts- und auch integrationsfördernd sein. Nicht das Gegenteil davon.

Ich finde es bemerkenswert und ich finde es schlimm, dass nach meiner Wahrnehmung die warnenden Stimmen vor diesem Muezzin-Ruf (es gibt übrigens in Deutschland schon länger Muezzin-Rufe an verschiedenen Moscheen) deutlich überwiegen. Bei der Frauenzeitschrift EMMA heißt es sogar "Muezzin-Ruf - ein Ruf des Schreckens!" Mit Ausrufezeichen.

Darin wird die Exil-Iranerin Hellen Vaziry interviewt. Sie ist 1986 aus politischen Gründen aus dem Iran nach Deutschland geflohen. Vaziry erzählt im Interview, dass sie mit dem Ruf des Muezzins die Schreckenszeit im Iran verbindet, das Erstarken von Islamisten.

Sie sagt:

"Seit der Islamischen Revolution unter der Führung von Khomeini im Iran wurde dieses Freitagsgebet auf zentralen Plätzen in den Städten zum politischen Akt, zu dem die jeweilige Tagespolitik verkündet wurde (...) Zu meiner Zeit in Teheran wurden am Freitag neue Gesetze der Scharia erlassen, zum Beispiel neue Restriktionen für Frauen. Hoch hinab vom Minarett sollte der Ruf symbolisieren: Die Scharia ist von Allah gewollt, ein Gesetz aus dem Himmel, es steht über allem."

Sie sagt außerdem, dass im Iran unter den Rufen der Muezzins vor allem Frauen in Gefängnissen gefoltert wurden.

Das ist schrecklich, und das wird Hellen Vaziry auch so erlebt haben. So wie viele andere Frauen im Iran auch und es gerade in diesen Zeiten wieder erleben. Nur: Was haben die politischen Verhältnisse im Iran mit dem Ruf eines Muezzins in Deutschland zu tun?

Richtig ärgerlich wird es, wenn EMMA fragt: "Was bedeutet der Ruf konkret für Frauen?" Und Vaziry antwortet:

"Dass wir uns der Sittenpolizei und der Scharia zu unterwerfen haben. Er ist die lautstarke Verkündung einer neuen Gesellschaftsordnung, in der der Mann über der Frau steht und die Frau sich zu verhüllen hat, unsichtbar wird (...) Es ist kein Glaubensakt, sondern ein politischer Akt."

Uff. Alles wieder drin: Scharia. Verhüllung. Unterdrückung der Frau. Patriarchalische Gesellschaftsstrukturen. Schreckensherrschaft.

Wegen des Rufes eines Muezzins.

Da sage ich: Nein, es ist zunächst mal ein Glaubensakt. Es ist der allgemeine Ruf zum Gebet, täglich verkündet mit besonderer Kraft am heiligen Freitag zum Gemeinschaftsgebet. Es wird bezeugt, dass Gott groß ist. Gott wohl gemerkt - da es der selbe Gott ist, an den auch Juden und Christen glauben, würden wohl jene, also Juden und Christen, dem nicht widersprechen. Es verbindet sie eigentlich. Es ist ja nicht der "muslimische Gott", wie es oft durch das arabische Wort für Gott - Allah - suggeriert wird.

Die Şehitlik-Moschee (türkisch Berlin Türk Şehitlik Camii) in Berlin
Hier ruft noch kein Muezzin: Die Şehitlik-Moschee in Berlin Neukölln, auch von der DITIB errichtet.

Viele Musliminnen und Muslime - das zeigten auch eingefangen O-Töne vor Ort in Köln - verbinden mit dem Gebetsruf eine religiöse, auch eine spirituelle Nähe, sie fühlen sich dadurch Gott und letztlich ihrer Gemeinde und Religion stärker verbunden. So etwas soll es ja auch unter Christen geben, wenn sie Glockengeläut hören. Was also ist dagegen zu sagen? Diese größere Sicht- und Hörbarkeit stärkt die Verbundenheit, sie wirkt dadurch eher integrativer als ausgrenzend. Darauf kommt es doch an. Oder doch nicht?

Ja, die politische Komponente, die ein Gebetsruf auch haben kann, sollte und darf man nicht ausblenden. Wer aber in einem Gebetsruf ausschließlich eine Gefahr sieht, ein sichtbares Zeichen des politischen Islams, der Desintegration - und ich habe hier jetzt nur zwei Stimmen unter vielen genannt - sollte sein Wissen über den Gebetsruf und sein Verständnis von Integration auch noch mal überprüfen. Und vielleicht doch - wenn es um einen Gebetsruf geht - die Kirche und die Moschee im Dorf lassen.

 

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