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  • AutorenbildJeannette Hagen

Studieren in Zeiten von Corona



Es ist Semesterende und während draußen die Sonne scheint, sitze ich vor meinem Laptop und warte darauf, dass der digitale Zugang wieder funktioniert, damit ich meine Testklausur schreiben kann. Seit gestern Abend ist die Plattform mal wieder out of order und irgendwie passt das zu allem, was ich als Erstsemesterstudierende im komplett digitalen Semester erlebt habe.


Dabei ist es bereits das zweite. Schon das letzte Sommersemester lief digital, auch hier mehr schlecht als recht, was sich vielleicht noch mit der allgemeinen Überforderung der schulischen und akademischen Einrichtungen Deutschlands im Rahmen der Digitalisierung erklären ließe. Nach einem Jahr lässt sich aber nichts mehr entschuldigen – kein schlechtes W-LAN, keine miese Tonqualität, keine Seminarausfälle. Sascha Lobo hat es in einer aktuellen Spiegelkolumne treffend auf den Punkt gebracht:

Es ist regierungsseitig vielleicht sogar weniger als nichts passiert, denn faktisch haben die verschiedenen Bundesregierungen Merkel die Digitalisierung verwässert, verhindert oder torpediert. Von der digitalen Infrastruktur über ein digitales Gesundheitssystem und eine digitale Bildungslandschaft bis zur digitalen Verwaltung wechseln sich Ausfälle und Totalausfälle ab.“


Ich kann das noch einigermaßen gelassen nehmen, gehöre ich doch aufgrund meines Alters (Ich habe mich mit 53 entschieden, noch mal zu studieren) und meiner Lebensumstände zu der Gruppe, die privilegiert ist. Die technischen Voraussetzungen sind da, ich kann ohne Geldnot studieren, mir kommt das digitale Lernen sogar entgegen, weil ich aufgrund wegfallender Wegstrecken Zeit spare und damit Familie, Beruf und Studium gut unter einen Hut bekomme. Mir mangelt es auch nicht an Kontakten, mein soziales Netz ist fest geknüpft, ich kann mit den Belastungen umgehen, weiß, wie ich meinen Tag strukturieren muss.


Was tun die, die das alles nicht haben?


Umso mehr beobachte ich, wie schwer es jene haben, die frisch von der Schule kommend, kaum Lebenserfahrung besitzen und auf all das verzichten müssen, was das Studierendenleben sonst so ausmacht, inklusive der Möglichkeiten, durch Kennenlernen und Ausprobieren in die Startboxen für die nächsten Jahre zu treten. Dazu kommt bei vielen der Mangel an einer perfekt funktionierenden Infrastruktur. Nicht wenige schauen die Vorlesungen auf ihrem Handy an.


Vor ein paar Wochen gab es dazu im Tagesspiegel den Appell einer Studierenden. Sie schrieb, die Gesellschaft möge doch bitte nicht vergessen, welche Opfer die jungen Menschen gerade bringen. Ein Leben vor dem PC oder Laptop ist kein echtes Leben und dem kann ich nur beipflichten. Schließlich sind es nicht nur die Seminare, die online abgehalten werden, sondern auch alles darüber hinaus. Wenn keine Mensen, keine Bibliotheken geöffnet sind, man sich nicht mal eben in Lerngruppen auf dem Campus treffen kann, bleibt nur das eigene Zimmer. Und das auch nur, wenn man das Glück hat, ein eigenes Zimmer zu besitzen. Und selbst, wenn man es hat, bleibt bei vielen die Einsamkeit oft gepaart mit akuter Geldnot, weil der Job weggebrochen ist, Hilfen zu spät oder gar nicht geflossen sind.


Trotzdem dauerte wirklich nur ein paar Minuten, bis unter dem Artikel, in dem die Studierende die Not der Kommiliton*innen beklagte, der erste Kommentar darunter stand: Sinngemäß so verfasst, dass das Leben doch kein Ponyhof sei und dass diese verwöhnte Generation doch einfach mal den Hintern zusammenkneifen und mit dem Gejammer aufhören sollte. Es folgten weitere Kommentare, die in dieselbe Kerbe schlugen.


Solidarität zeigen


Mich hat das wirklich entsetzt, vor allem, weil sich an der Stelle exemplarisch ein Graben geöffnet, der auch im Zuge der Klimakrise schon auf scheinbar unüberbrückbare Differenzen zwischen den Generationen deutet. Natürlich liegt ein großes Stück Verantwortung bei den sogenannten Boomern. Auch bei einer Regierung, die – siehe Sacha Lobo – seit Jahren die Digitalisierung der Bildung verschläft und damit den „Zukunftsstandort Deutschland“ im Digitalranking auf einen der hintersten Plätze manövriert hat. Auf Island zum Beispiel kann man noch so abgelegen unterwegs sein, niemals fällt der Handyempfang aus. Davon träumen ganze Regionen in unserem Land. Aber es ist noch viel mehr. Es mangelt vielen Älteren einfach an dem Bewusstsein dafür, dass auch sie mal jung waren. Dass sie eine – zu großen Teilen – sehr behütete friedliche Kindheit hatten und das mit überwiegend rosigen Zukunftsaussichten. Das ist heute nicht mehr so. Die Jugend heute sieht sich mit Herausforderungen konfrontiert, die gemessen an denen der Kriegsgeneration vielleicht zunächst lächerlich erscheinen, die es aber keineswegs sind. Es geht um Orientierung in einer sich extrem schnell wandelnden Welt. Es geht um Zukunftsängste, darum, dass „Versagen“ im Raum steht und alle gelernt haben, dass Versagen das Letzte ist. Unterm Strich stehen die Generationen X und Z unter einem enormen Druck. Das anzuerkennen, wäre ein erster Schritt. Sich wenigstens verbal solidarisch zu zeigen, ein nächster.


Wann die Pandemie ein Ende hat, ist nicht abzusehen. Die Studierenden werden die letzten in der Reihe sein, die geimpft werden. Das bevorstehende Sommersemester wird, das steht jetzt schon fest, an den meisten deutschen Universitäten wieder rein digital sein, was bedeutet, dass die Erstsemesterstudierenden erst dann zum ersten Mal die reale Universität betreten, wenn ein Drittel des Studiums schon hinter ihnen liegt. Normalerweise begleiten die Drittsemesterstudierenden die neuen Erstis in den Uni-Alltag, können Tipps geben, in den neuen Lebensabschnitt einführen, Wege bereiten. Sie können das nicht, sondern stehen nach einem Jahr Studium wahrscheinlich ähnlich ahnungs- und ratlos in den Gängen wie die neuen. Das mag vielleicht nicht mit den Widrigkeiten denen andere Generationen gegenüberstanden, vergleichbar sein. Trotzdem sollten wir Älteren ihnen zugestehen, dass sie die Nase voll haben und sich nach einem Leben sehen, dass ihnen den Raum gibt, den sie als junge Erwachsene brauchen.




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