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  • AutorenbildMarkus Mauthe

Was wäre, wenn die Erde schreien könnte?

Braunkohle Abbau im Jahr 2020 ist, als würde der Arzt seinem Patienten ein Stück Holz zum Draufbeißen geben, bevor er ihn ohne Narkose am offenen Herzen mit Messer und Gabel operiert. Das zeigt sich erschreckend eindrücklich am Tagebau in Hambach.


Einer von acht riesigen Baggern, der im Tagebau Hambach die Erde nach Braunkohle durchwühlt.


Braunkohle ist eine der klimaschädlichsten Energieträger der Welt. Das ist bekannt und unter Wissenschaftlern Konsens. Seit vielen Jahren versuche ich als Umweltaktivist darauf aufmerksam zu machen, dass es längst nachhaltige Alternativen gibt, die, mit klarem Menschenverstand betrachtet, der fossilen Kohle in fast allen Bereichen überlegen sind.

Ich kann mir selbst nicht erklären, warum ich erst jetzt, zum erstem Mal in meinem Leben, einen Blick in einen deutschen Tagebau geworfen habe. Die Erfahrung war eindringlich und schmerzhaft.


Die Maschinen arbeiten Tag und Nacht. Was sich in Millionen Jahren ablagerte, wird in wenigen Jahrzehnten zurück an die Oberfläche geholt.


Schmerzhaft ist sie dann, wenn man wie ich unsere Erde als lebendigen Organismus sieht, in dem alles mit allem zusammen hängt.

Wird eine Schulklasse bei einem Besuch des Tagebaus Garzweiler von einem Technokraten begleitet, wird er dem Nachwuchs wahrscheinlich von großartiger Ingenieurskunst vorschwärmen.

Ich hingegen sehe riesige, offene Wunden, in denen ein Element zu Tage befördert wird, das die Zukunft unserer Kinder zerstört.


Alte und neue Energieformen auf einem Bild. Erstaunlicherweise gibt es in manchen Kreisen mehr Gegenwind für die Windkraft als für den Kohleabbau.


Um das Problem noch mal zu verdeutlichen: Kohle ist praktisch nichts anderes als über einen Zeitraum von Jahrmillionen im Boden eingelagerte Pflanzen, die sich aus verschiedenen Gründen nie zersetzt haben. In ihrer Wachstumsphase hat sich in ihnen als Teil der Fotosynthese Kohlenstoff angereichert. Dieser sorgt in der Atmosphäre als Treibhausgas für eine uns angenehme Durchschnittstemperatur von fünfzehn Grad Celsius auf diesem schönen Planeten. Doch mit der Nutzung fossiler Brennstoffe setzen wir immer mehr CO2 (Kohlenstoffdioxid) und andere Gase frei, die eigentlich fest im Boden versiegelt waren. Der Planet wird wärmer, weil es immer weniger reflektierte Sonnenstrahlen durch die erhöhte Menge an Gasen schaffen, zurück ins Weltall zu entweichen.


#alledörferbleiben - Trotz des beschlossenen Ausstiegs aus der Kohle sollen um Hambach noch immer fünf Dörfer abgerissen und die Menschen ihrer Heimat beraubt werden. Unter anderen die Fridays for Future Bewegung hat verstanden, dass dies unverantwortlich ist.


Dass eine umfassende Energiewende vollzogen werden muss, hat sich mit viel Verzögerung und massiver Verschleppung auch in den Kreisen der hohen Politik herumgesprochen. In Deutschland ist der Kohleausstieg zwar beschlossene Sache. Der Skandal ist jedoch der Zeitpunkt und die Milliardenbeträge, die der sehr mächtigen Industrie zugestanden werden. Während in den letzten Jahren der Verlust von zehntausend Arbeitsplätzen in der Solarbranche achselzuckend hingenommen wurde, reicht der Einfluss der fossilen Lobby so weit, dass ihnen praktisch jeder Wunsch erfüllt wird. Deutschland möchte erst 2038 aus diesem Wahnsinn aussteigen, was bedeutet, dass wir in Europa zu den Schlusslichtern gehören. Das ist inakzeptabel. Ich bin ganz sicher, dass der letzte Bagger weitaus früher sein destruktives Werk beendet. Schon allein deswegen, weil der Abbau von Kohle preislich einfach nicht mehr mit Windrädern und Sonnenkollektoren mithalten kann.


Ziviler Ungehorsam ist der stärkste Hebel, den eine Gesellschaft hat, damit echter Wandel vollzogen wird. Friedlich und auf der demokratischen Grundordnung basierend ist er eine Kraft, der langfristig kein System standhalten kann.


Am selben Wochenende, als in Berlin über vierzigtausend Menschen gegen die Hygieneauflagen der Regierung zur Bekämpfung der Corona-Pandemie protestiert haben, sind rund zweitausend Aktivistinnen und Aktivisten am Tagebau Hambach vorbeigezogen und haben sich unter Einhaltung aller Sicherheitsvorgaben dafür eingesetzt, dass die Kohle in der Erde bleibt. Wie sehr ich mir gewünscht habe, dass die Besucherzahlen an den zwei Demos genau umgekehrt gewesen wären, dürfte klar sein. Aber das ist das Schicksal von Umweltaktivisten. Man steht selten auf der Seite der Mehrheit, weil die Dringlichkeit der Probleme vielschichtig und deren Lösungen komplex sind. Das ist extrem unsexy. Trotzdem macht es mir Mut zu sehen, dass gerade für einen großen Teil der Jugend ein weiteres Aufschieben des Offensichtlichen keine Option mehr ist. Das Thema Umwelt wird in den kommenden Jahren mit keinem Lobbygeld der Welt mehr aus den Schlagzeilen zu verdrängen sein. Die momentanen Brände in Kalifornien sind ein trauriges Beispiel für die neue Normalität, die noch viel schlimmer wird, lassen wir diejenigen gewähren, die weiter beim Status quo verharren wollen.


Viele Landwirte haben sich der Umweltbewegung angeschlossen, denn es sind ihre Felder und Bauernhöfe, die noch geopfert werden sollen, obwohl der Kohleausstieg längst beschlossen ist.




Cartoon © Guido Kühn


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