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  • AutorenbildMarkus Mauthe

Nepal - Kanchenjunga Expedition III

Reportage


Unterwegs zum Basislager des dritthöchsten Berges der Welt, dem 8586 Meter hohen Kanchenjunga im Himalaya


Teil 3: Ziellauf


Im Laufe der Nacht wird es knackig kalt. In den frühen Morgenstunden kommt die Kälte unangenehm in den Schlafsack gekrochen, der verstärkte Kragen um den Hals reicht kaum noch aus, ein Eindringen in die kleine innere Welt aus Wärme zu verhindern. Ich habe mich mit dem Kopf nach innen verzogen. Nur eine kleine Öffnung sorgt für eine ausreichende Luftzufuhr. Es ist vier Uhr, als der Wecker uns unbarmherzig aus dem Schlaf reißt. In diesen Höhen schläft man in der Regel sowieso nicht gut, ich bin recht schnell wach. Schnell ist mir klar, dass nun einer der unangenehmsten Augenblicke des neuen Tages vor mir liegt: Ich muss den Schlafsack verlassen. Das erfordert große Überwindung. Mir gelingt es, indem ich vor Augen führe, was außerhalb des Zeltes auf mich wartet. Dabei schießt soviel Adrenalin durch meinen Körper, dass ich meine Glieder bewegen und mühsam den Reißverschluss aufziehen kann. Doch wie ergeht es meiner Freundin Juliana?


Wir sind inzwischen auf 4700 Metern Höhe, und sie bekommt ihren an brasilianische Temperaturen gewöhnten Körper schon seit drei Tagen nicht mehr richtig warm. Dabei hat sie den gleichen Schlafsack wie ich. Wir wissen, dass wir uns heute für einige Tage trennen werden. Deshalb haben wir beschlossen, an diesem Morgen den Sonnenaufgang gemeinsam zu erleben. Ich sehe, wie sie sich langsam bewegt und nach einiger Zeit tapfer den Schlafsack öffnet. Das Thermometer zeigt zehn Grad unter Null. Die Außenwand des Zeltes ist mit einer Schicht aus Raureif überzogen. Mein erster Blick geht zum Himmel, als ich aus unserer Behausung krieche. Mit Erleichterung blicke ich direkt auf unzählige Sterne, die über der Silhouette der uns umgebenden Berggipfel leuchten. Es ist noch finstere Nacht, doch das wird sich sehr bald ändern. Eingehüllt in alles, was uns an Kleidung zur Verfügung steht, steigen wir eine Anhöhe hinauf.


Direkt vor uns erheben sich über siebentausend Meter hohe Berge, davor blicken wir auf einen riesigen Gletscher, dessen zerklüftete Formen auch im Nachtdunkel zu erahnen sind. Der Mond ist nur eine schmale Sichel. In der klaren Luft der Berge den Beginn eines neuen Tages zu beobachten, gehört für mich zum schönsten, was man als Naturfreund draußen in den Elementen erleben kann. Zuerst bekommt der Himmel einen dunkelblauen Schimmer, an der Stelle, wo später die Sonne aufgehen wird. Dieser hellt sich immer mehr auf und ist eine der spannendsten Lichtquellen, die man sich als Fotograf wünschen kann. Die Belichtungszeiten befinden sich zu Anfang noch im Bereich von mehreren Sekunden. Das ist kein Problem, ich arbeite mit dem Stativ. Es ermöglicht mir, mit diesem zwar schwachen, aber farblich so faszinierendem Licht zu fotografieren.

Als die ersten Sonnenstrahlen die höchsten Gipfel mit einem zarten goldenen Schleier überziehen, ist es soweit. Das ist der Moment, auf den ich lange gewartet habe. Für einen noch größeren Moment.


Vor einem Jahr habe ich Juliana bei einer Fotoreise im brasilianischen Regenwald kennengelernt. Seither haben wir eine so harmonische und wunderbare Beziehung gelebt, dass ich mir schon nach einigen Monaten klar darüber war, dass sie die große Liebe meines Lebens ist. Jetzt ist sie sogar im Hochgebirge des Himalaya an meiner Seite. Besonders die vergangenen Tage, nachdem wir Ghunsa verlassen haben, hat sie sich nochmals selbst übertroffen. Sie hat sich weder von Höhe, Kälte noch von Geröllfeldern und steilen Abgründen abhalten lassen, mich bis hierher zu begleiten. Kann es jemals einem besseren Ort geben, als Juliana DIE Frage zu stellen? Da es weder in der Liebe noch sonst irgendwo im Leben absolute Sicherheiten gibt, nehme ich ihre Hand in die meine genommen, blicke ihr ganz tief in die Augen und wage, sie zu fragen: "Möchtest du mich heiraten?"


Unser Freund Rolf meinte später, es müsse wohl an der Höhenkrankheit gelegen haben, dass sie mir mit einem klaren JA geantwortet hat. Zu meinem Glück hat sie aber auch später in der schwülen Tropenhitze ihrer Heimat ihre Meinung nicht geändert. Jetzt freuen wir uns darauf, das Leben mit all seinen Abenteuern und Prüfungen gemeinsam meistern zu können.

Später am Morgen hat die Sonne jegliche Erinnerung an die frostige Nachtluft weggeschmolzen, und wir bereiten unsere weiteren Schritte vor. Es ist noch ein Tagesmarsch bis zum Basislager des Kanchenjunga, dem Endpunkt unserer Wanderung. Es liegt auf 5100 Metern Höhe, es soll mir ermöglichen, den dritthöchsten Berg der Welt zu fotografieren. Doch für Juliana ist hier der Zeitpunkt zum Umkehren gekommen. Die Höhe bereitet ihr keine Probleme, aber umso mehr die Kälte in der Nacht. Den Körper nicht mehr richtig warm zu bekommen, ist kein schöner Zustand für eine Brasilianerin. Niemand in der Gruppe hätte ihr zu Beginn der Reise zugetraut, so weit nach oben zu gelangen. Es ist keine Schande, seine Grenzen zu erkennen und diese zu respektieren, ganz im Gegenteil. Es zeugt von Größe.

Das ist ein Ratschlag, den ich übrigens Jedem geben kann, der sich in die Wildnis begibt. Erreicht man ein Stadium, in dem man sich unwohl fühlt, sollte man tunlichst vermeiden, das zu überhören. Damit meine ich nicht, dass man nicht mal körperlich an seine Grenzen gehen oder diese auch überschreiten kann. Man sollte sich aber immer gewahr sein, zu was der eigene Körper in der Lage ist, besonders wenn er dem Bewusstsein Angstsignale sendet. Wenn ich das Gefühl habe, das Eis ist zu dünn, dann begebe ich mich nicht unnötig in Gefahr und suche mir entweder einen anderen Weg, oder ich breche ab. Vielleicht ist das einer der Gründe, der mir half, in den letzten fünfundzwanzig Jahren immer an einem Stück von einer Reise heimzukehren. Ein besonderes Anliegen ist es mir natürlich, dass auch Juliana wieder gesund nach Hause kommt. Nicht auszudenken, wenn ihr hier etwas Schlimmes zustoßen würde.


Dass eine solche Tour eine Gefahr sein kann, haben wir von einer anderen Reisegruppe erfahren. Diese befand sich sogar noch einen Tagesmarsch tiefer, als sie das Unglück ereilte. Nur Dank eines Satellitentelefons gelang es ihnen, einen Hubschrauber anzufordern, um einen japanischen Wanderer, den die Höhenkrankheit erwischt hatte, rechtzeitig auszufliegen. Ohne diese Hilfe wäre er wahrscheinlich auf etwas mehr als viertausend Metern Höhe im kleinen Sommerlager Kampachen ums Leben gekommen. Als wir zwei Tage zuvor dort ankamen, haben wir einen Tag Pause eingelegt, um unsere Körper an die Höhe zu gewöhnen. Wer es im Hochgebirge zu eilig hat, begeht einen großen Fehler, den schon viele mit ihrem Leben bezahlt haben.


In Kampachen lagern wir zum ersten Male direkt am Fuße eines Berges, der über siebentausend Meter hoch war. Ich kann mich kaum an diesem Anblick sattsehen. Aus einem Seitental kommend hat hier sein Gletscher eine riesige Moränenlandschaft ins Haupttal geschoben. Es ist erstaunlich, wie viel Gestein durch das Eis bewegt wird. In geologischen Zeiträumen gesehen, entstehen dadurch Landschaften. Erschrocken bin ich darüber, wie stark dieses Monster aus Geröll in seinem Inneren schon entleert war. Das Eis ist weit unter die Gesteinslinie der Moräne zurückgeschmolzen und wird auch in Zukunft weiter verschwinden. Dafür sorgen wir Menschen, die wider besseres Wissens weiter unbeschwert Öl und Kohle zur Energiegewinnung verbrennen.


Weiter oben im Lager, wo sich Julianas und mein Weg in Kürze trennt, sind wir inzwischen auf der Höhe des Hauptgletschers. Er wird vom Kanchenjunga und anderer Riesenberge gespeist, ist wohl dank der Höhe und seiner puren Größe in noch recht gutem Zustand. Zumindest optisch gibt es hier noch viel Eis, das schmelzen muss, bis den Flüssen unterhalb unseres Standpunktes das Wasser ausgeht.


Wir beschließen, dass Juliana zusammen mit einem der Träger wieder zurück nach Kampachen und eine Nacht später nach Ghunsa laufen wird, um dort auf den Rest von uns zu warten. Ganz wohl ist mir bei der Sache nicht, denn gerade der Abstieg birgt Gefahren. Besonders bei losen Geröllfeldern, von denen es einige zu überqueren gibt. Abwärts zu laufen ist zwar in der Regel schneller, aber nicht unbedingt weniger anstrengend, da besonders die Knie stark belastet werden. Doch meine Liebste war wild entschlossen, mir den Aufstieg zum Basislager zu ermöglichen und auf eigene Verantwortung diese zwei Tage Abenteuer zu meistern. Ohne viel Tamtam haben wir uns verabschiedet, verbunden mit dem festen Vorsatz, uns in drei bis vier Tagen in Ghunsa wieder zu sehen.


Nun beginnt also der letzte, fotografisch wichtigste Teil der Reise. Zu diesem Zeitpunkt sind wir schon über zwei Wochen unterwegs, ich habe viele schöne Bilder machen können. Doch natürlich fehlt dem Thema Gebirge etwas Entscheidendes, wenn es mir nicht gelingt, den Kanchenjunga standesgemäß abzulichten. Die verbliebenen Jungs meiner Gruppe fragen mich, ob sie in der Zeit, die ich im Basislager verbringen möchte, hier in Lhonak bleiben können. Im Gegensatz zu dort oben gibt es hier eine einfache Steinhütte, in der sie kochen und schlafen können. Da sie keine eigenen Zelte dabei haben, ist dies natürlich keine Frage. Zumal die Aussicht, dort oben für zwei Nächte komplett alleine zu sein, äußerst reizvoll für mich ist.

Die letzte Etappe ist wirklich wild. Vegetation gibt es hier nur noch in Form einiger Gräser, die in der Umgebung kleiner Bäche wachsen. Es ist das Reich der Blauschafe und des Schneeleoparden. Diese Region ist eines der wenigen verbliebenen Rückzugsgebiete dieser großen Katze, deren Anwesenheit man am ehesten in Form von Tatzenspuren im Neuschnee beobachten kann. Zwei meiner Begleiter helfen mir, die Ausrüstung zum Endpunkt der Wanderung zu bringen. Der Weg folgt parallel des riesigen Kanchenjunga-Gletschers, eine raue Landschaft aus Eis und Geröll. Der Gletscher ist fast komplett mit Gestein bedeckt, an manchen Stellen erst auf dem zweiten Blick als solcher zu erkennen. Immer wieder höre ich ein mächtiges Knacken und Rauschen, ein deutliches Zeichen für seine Aktivität. Das Eis ist ständig in Bewegung, wenngleich für Beobachter nur in den wenigsten Momenten wahrzunehmen.



Als ich zurück ins Tal blicke, sehe ich dunkle Wolken heraufziehen. Ein deutliches Zeichen für einen Wetterwechsel. Im Gebirge kann so etwas sehr schnell gehen, deshalb versuchen wir, unser Tempo etwas zu steigern. Keine einfache Aufgabe auf fünftausend Metern Höhe. Doch es gelingt uns tatsächlich auf der kargen Wiese des Basislagers anzukommen, bevor ein starker Schneefall einsetzt. Meine Kameraden machten sich sofort auf den Rückweg. So schnell es mir möglich ist, schlage ich das Zelt auf und lege mich ziemlich erschöpft in den Schlafsack. Ich bin gar nicht so unglücklich darüber, dass mich das Wetter zu einer Ruhepause zwingt. Während draußen der Schnee auf meinem Zeltdach dicker wird, falle ich in einen leichten Schlaf. Ich bin immer noch ziemlich erschöpft, mein Kreislauf ist alles andere als in Topform, als mein Unterbewusstsein eine Veränderung wahrnimmt. Es muss gegen halb vier Uhr am Mittag sein, als die dichte Wolkendecke immer wieder aufreißt und den einen oder anderen Lichtstrahl zu mir durchdringen lässt. Als ich schlaftrunken das Zelt öffne, kann ich sogar schon wieder Teile des Gletschers und der dahinter aufsteigenden Berge erkennen.


Es ist erstaunlich. In den vergangenen Tagen hat es gegen Abend nie wieder aufgeklart. Aber jetzt. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als meine Erschöpfung zu ignorieren und mich dem hinzugeben, warum ich eigentlich hier bin. Zum ersten Mal blicke ich bewusst auf den Kanchenjunga, der, etwas nach hinten versetzt, vor mir aufragt. Wirklich schön ist er nicht. Er hat drei Gipfel, die alle ungefähr dieselbe Höhe haben. Was ihm fehlt, ist eine markante Form. Etwas,, das ihn optisch sofort von anderen Bergen unterscheidet. Doch faszinierend ist er allemal, besonders die vielen vereisten Steilwände lassen bei genauerer Betrachtung die pure Größe dieses Riesen erahnen. Doch mein Standpunkt ist noch nicht ganz optimal, ein Teil der Bergfront wird von einem vorgelagerten Bergrücken verdeckt.


Ich beschließe, dem Hauptgletscher noch ein wenig zu folgen und auf eine Passhöhe zu steigen, die gute Ausblicke verspricht. Das sind geschätzte dreihundert Höhenmeter. Normalerweise nicht der Rede wert. Doch in meinem Zustand, mit voller Kameraausrüstung auf dem Rücken, ist das durchaus eine Herausforderung. Es geht sehr steil nach oben. Nur ganz langsam komme ich voran. Alle paar Meter zwingt mich der Körper, zu pausieren. Ich bekomme einfach nicht genug Sauerstoff in die Lungen, kämpfe mich aber auf den Pass und werde mit einer sagenhaften Position belohnt.


Nun liegt der Berg frei vor mir, der Blick auf den Gletscher ist durch die gewonnene Höhe fantastisch. Vom Tal ziehen immer wieder Wolken herauf, die im goldenen Abendlicht die Landschaft in eine ungezähmte Mischung aus Licht und Schatten verwandeln. Alles wirkt so plastisch und zum Greifen nahe.

Man bezeichnet uns Naturfotografen gerne als Jäger des Lichts. An diesem Ort und zu diesem Moment kann ich mich über eine äußerst erfolgreiche Jagd freuen. Ich bin zwar körperlich fix und fertig, genieße aber jeder Minute.


Als ich mein Zelt erreiche, zwinge ich mich, einen Müsliriegel zu essen, trinke dazu etwas Wasser, um dem Körper wieder verlorene Energie zuzufügen. Es ist erstaunlich, wie wenig man hier oben das Bedürfnis hat, Nahrung zu sich zu nehmen. Aber genau aus diesem Grund ist es äußerst wichtig, es zu tun, damit man bei Kräften bleibt. Für den kommenden Morgen habe ich gar nicht erst versucht, den Wecker zu stellen. Mir ist klar, dass die Kraft für eine Sonnenaufgangsrunde nicht ausreichen würde. Also bringe ich mich mehr oder weniger schlafend durch die Nacht, bleibe am Morgen so lange im Schlafsack liegen, bis mir der Körper das Gefühl gibt, genügend geruht zu haben. Mein Plan sieht vor, zu versuchen, dem Pfad von gestern weiter zu folgen um die Felswand bis auf sechstausend Meter Höhe zu besteigen. Sollte es mir gelingen auf diesen Gipfel zu kommen, hätte ich zahlreichere Ausblicke auf die mich umgebende Bergwelt. Ich befinde mich hier übrigens schon fast in unmittelbarer Nähe zur Grenze von Tibet. Heute muss man ja leider China sagen. Eine der, wie ich finde, großen Ungerechtigkeiten, in der an Dummheiten nicht armen Geschichte der Menschheit.

Bevor ich loslauf, überlege ich sehr genau, was ich mit in den Rucksack packen muss. Sonnencreme, Brille, Hut, Wasser, Nahrung, Regenhose und Jacke sind obligatorisch. Ich habe aber auch mein GPS-Gerät eingepackt, denn auch bei relativ kurzen Distanzen kann man im Nebel schnell die Orientierung verlieren. Da ich mir vorgenommen habe, auch mich selbst bei der Arbeit zu portraitieren, schleppe ich zwei Gehäuse mit und ebenso das fünf Kilogramm schwere 200-400 Millimeter Teleobjektiv. Zusammen mit dem Stativ kommt da einiges zusammen, was mir im Laufe des Tages bei jedem Schritt schmerzlich bewusst wird.

Als ich starte, ist der Himmel völlig wolkenlos, die schneebedeckten Gipfel strahlen vor dem dunkelblauen Himmel. Der Weg zum Pass klappt ohne Probleme. Langsam aber zielsicher komme ich voran. Es gibt keinen sichtbaren Pfad mehr. Ich steige die Geröllwand Stück für Stück nach oben. Mein GPS zeichnet jeden meiner Schritte auf. Als ich um eine weitere steile Wand herumlaufe, sehe ich direkt über mir einen Gletscher. Diese kleine Eisfläche ist frei von Gestein und völlig zerklüftet. Ein tolles Motiv.


Doch mein Aufstieg gestaltet sich sehr langsam. Gegen Mittag zeigt mein Höhenmesser 5500 Meter an. Ich habe die Gletscherzunge fast erreicht. Vom Tal ziehen die ersten Wolken herauf. Zu Anfang beunruhigt mich das nicht sonderlich, da dies nach einem klaren Morgen an jedem Tag passiert. Doch in erstaunlichem Tempo wird mir durch immer schneller ziehende Wolken die Sicht genommen. Nach kurzer Zeit hat sich das Bild gewandelt. Ich bin von einer Geröllwüste umgeben, die einzige Farbe, die jetzt noch dominiert, ist grau. Trotzdem gebe ich noch nicht auf. Ich erinnere mich an den Vortag und hoffe, dass es nach einer gewissen Zeit gegen Abend wieder aufreißen wird. Ich schaffe weitere hundert Höhenmeter, muss mir aber eingestehen, dass mich meine Kräfte verlassen. Inzwischen ist praktisch jeder Schritt eine Tortur. Da ich sowieso nichts sehen kann, gebe ich das Ziel auf, bis auf den Gipfel zu kommen. Ich suche mir einen halbwegs bequemen Stein, an den ich mich windgeschützt anlehnen kann, und hoffe auf einen erneuten Wetterwechsel. Dann beginnt eine der Tätigkeiten meines Berufes, die leider allzu häufig vorkommt und nicht immer zum Erfolg führt – die Warterei.


Nach drei langen Stunden, in denen ich außer auf eine graue Wand zu starren, nichts mache, beschließe ich, an die Stelle zurückzusteigen, an der ich am Vorabend meine Fotos machen konnte. Dass ich im Dunkeln würde zurücklaufen müssen, ist mir klar. Mit dem Abstieg zum Pass bin ich zumindest wieder in relativer Nähe zum Zelt. Bisher hat es zwar weder gestürmt noch geschneit, doch man weiß ja nie. Es wird dunkel ohne dass sich in den Wolken etwas tut. Ich bin etwas traurig, denn der komplette Tag war eigentlich ein fotografischer Ausfall. Also habe ich noch zwei weitere Stunden ausgeharrt. Wenn die Wolken verschwinden würden, bevor der letzte Rest an nachglühendem Tageslicht erloschen ist, könnte ich noch eine gute Nachtaufnahme machen. Dazu brauche ich den Sternenhimmel und ein etwas Licht von der vor langer Zeit hinter dem Horizont verschwundenen Sonne. Doch ich habe kein Glück. Jetzt bleibt mir nichts anderes übrig, als auf den kommenden Morgen zu hoffen.

Um die Aufnahme machen zu können, die mir vorschwebt, muss ich um vier Uhr früh wieder hier auf dem Pass sein. Das ist mit dem schweren Gepäck unmöglich zu schaffen. Also verpacke ich meine Ausrüstung gut und lege den Rucksack unter einen überhängenden Stein. Gegen 21 Uhr komme ich mehr taumelnd als gerade laufend beim Zelt an. Ich stelle den Wecker auf zehn vor drei, um genügend Zeit zu haben, nach einer viel zu kurzen Nachtruhe in die Kleidung zu kommen und den Berg wieder nach oben zu steigen. Mich als erschöpft zu bezeichnen, ist noch untertrieben, trotzdem gelingt es mir nur sporadisch, in einen leichten, unruhigen Schlaf zu fallen. Immer wieder wache ich auf und rolle mich von einer Seite auf die andere. Allein nach Mitternacht blicke ich ungefähr fünf mal auf die Uhr. Die Angst, diese wichtige Chance zu verpassen, sitzt tief.


Gerade deshalb ist es mir völlig unbegreiflich, dass ich den Wecker nicht läuten höre. Als ich wieder auf die Uhr blicke, ist es bereits zehn nach drei. Wie von der Tarantel gestochen, gleichzeitig laut fluchend, schieße ich aus dem Schlafsack und schlüpfe in Rekordzeit in meine Kleidung. Wie in Trance versuche ich die letzten Kraftreserven aus mir herauszupressen, um möglichst schnell nach oben auf den Pass zu kommen. Beiläufig nehme ich wahr, dass der Himmel tatsächlich wolkenfrei ist und ich meinen Plan durchführen kann, wenn es mir gelingt, die verlorene Zeit aufzuholen. Auch ohne Gepäck geht es nicht wirklich schnell voran, doch dafür beständig.

Ich kann mein Glück kaum fassen, als ich zwei Minuten vor Vier bei meiner Ausrüstung stehe. Die folgenden Handgriffe sitzen, gehen fließend von der Hand, während ich mir schon Gedanken mache, wo ich das Stativ aufstelle. Um genau vier Uhr drücke ich zum ersten Mal den Fernauslöser. Die Kamera steht auf ISO 4000, ich belichte dreizehn Sekunden bei Blende 3,2. Auf dem Bild erscheint das Kanchenjunga Massiv, beleuchtet von den ersten zarten Nuancen der Morgendämmerung. Darüber erhebt sich die Milchstraße in all ihrer Pracht.

Wenige Minuten später ist es für unser Auge zwar immer noch dunkel, doch die Präsenz des Universums nimmt mit zunehmendem Licht massiv ab. Zuerst verschwindet die Milchstraße, später nach und nach die der Erde näher gelegenen Sterne. Dafür leuchten die Berge vor einem immer noch dunkelblauen Nachthimmel. Mit zunehmender Helligkeit kann ich die ISO-Zahl herabsetzen, das verbessert deutlich die Bildqualität.



Für mich ist dieser ganze Prozess pure Magie. Ich stehe, umgeben von absoluter Stille, an einem Ort voller unverfälschter Wildnis. Ich erlebe diese Momente in solch erregender Intensität, dass ich kaum Worte dafür finde. Eindrücke, die durch kein Geld der Welt ersetzbar sind und die es sich tief in meiner Seele auf den besonders gemütlichen Plätzen bis an mein Lebensende gemütlich machen dürfen.

Auch wenn es unmöglich ist und wahrscheinlich nichts ändern würde, so wünschte ich mir doch, dass jeder Mensch mindestens ein Mal im Leben ein solch eindrückliches Erlebnis mit unserer Mutter Erde haben dürfte­­. Vielleicht wäre unsere Spezies dann etwas ehrfurchtsvoller im Umgang mit dem Planeten, der uns alle mit seinen Ressourcen versorgt und eine solch wunderschöne Heimat ist. © Text & Fotos Markus Mauthe


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