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  • AutorenbildMarkus Mauthe

Nepal - Kanchenjunga Expedition II

Reportage


Unterwegs zum Basislager des dritthöchsten Berges der Welt, dem 8586 Meter hohen Kanchenjunga im Himalaya


Teil 2: Hauptlauf


Um den Kanchenjunga Basecamp-Trail zu bewältigen, gibt es zwei Varianten. Die längere führt zuerst zum nördlichen Basislager und dann über einen fast fünftausend Meter hohen Pass zur südlichen Seite des Berges. Man läuft sie als Rundweg, um dann wieder in der Nähe von Dobhan, unserem jetzigen Standpunkt, anzukommen. Es bedarf keines Wahrsagers, um sich auszumalen, dass diese Route für Juliana und mich nicht in Frage kommt. Wegen meiner Fotografie und ihrem reduzierten Tempo würden wir uns in einen Dauerstress begeben, der uns die Tour sehr schnell verleiden kann.


Da unser Freund Rolf aber sehr wohl willens und auch in der körperlichen Verfassung ist, die große Runde zu wagen, tritt nun ein Plan in Kraft, über den wir schon im Vorfeld gesprochen hatten. Wir werden unsere Truppe in zwei Gruppen aufteilen und unsere Strecke auf das nördliche Basislager beschränken, um dann auf dem gleichen Weg wieder zurückzulaufen. Das verschafft uns einen Spielraum von drei bis vier Tagen, an denen wir bei Bedarf auch mal pausieren können. Aber vor allen Dingen habe ich am Basislager gegebenenfalls Zeit, auf gutes Wetter zu warten, um dann meine Bilder zu machen. Nicht auszudenken, dass ich da oben vor dem drittgrößten Berg der Welt stehe und ihn gar nicht zu Gesicht bekomme.



Den ersten Tag Pause gönnen sich Juliana und ich gleich am kommenden Morgen nach unserer Ankunft im Örtchen Dobhan. Der lange Abstieg von Vortag steckt uns noch in allen Muskeln, als wir Rolf und seine vier Begleiter verabschieden. Sie haben sich ein anspruchsvolles Programm vorgenommen. Sie sollten es mit Bravour schaffen und den Treck sogar zwei Tage früher beenden, als geplant. Dafür hat Rolf aber ganz schön leiden müssen. Er hat zwar unseren Guide in seine Gruppe bekommen, wir aber dafür den Koch. Da dieser sowieso der einzige ist, der bisher schon mal in dieser Region unterwegs war, haben wir, glaube ich, einen guten Deal gemacht. Je höher wir laufen, desto spartanischer wird auch unser Essen werden. Doch im Direktvergleich erfreuen wir uns an wesentlich abwechslungsreicherer Nahrung als Rolfs Gruppe. Die nehmen jeden Tag nur Reis und Tütensuppe zu sich. Als wir uns zum Abschied feste drücken, ist völlig ungewiss, wie weit unser Teil der Expedition in die Bergwelt vorzudringen vermag. Julianas Füße sehen wirklich nicht gut aus, und ein wenig Angst vor einem vorzeitigen Abbruch habe auch ich. Offene Füße sind extrem unangenehm und haben schon so manchen harten Kerl zum Abbruch einer Wanderung gezwungen. Doch ich habe von nun an alle relevanten Stellen mit Blasenpflastern und Klebeband bearbeitet und ihr immer persönlich die Schuhe fest zugebunden. So entsteht möglichst wenig Reibung auf den Füßen.


Am Ortsrand von Dobhan treffen zwei große Flüsse aufeinander und fließen gemeinsam weiter. Einem werden wir ab Morgen für viele Tage folgen. Wir sind überrascht, dass wir überhaupt keine anderen westlichen Wanderer entdecken, als wir uns gegen Abend doch noch aufraffen können, von unserem Campingplatz aus einen Ausflug ins Dorf zu machen. Die kleine Hauptstraße ist voll mit Nepali, die auf ihren Wegen hier eine Rast einlegen. Immer wieder sehen wir Gruppen von beladenen Eseln und Yaks über die Hängebrücken kommen, die Waren in die umliegenden Täler transportieren. Große Stapel Bücher sind auch dabei, wohl für die Dorfschulen bestimmt. Die Menschen sitzen vor den Läden und sind meist gut gelaunt – zu gut, wenn man genau hinschaut. Daran ist nicht zuletzt eine durchsichtige Flüssigkeit Schuld, die hier den Namen Roxy trägt und aus hochprozentigem Alkohol besteht. Gegen achtzehn Uhr bekommen wir ein reichhaltiges Abendessen und liegen frühzeitig auf unseren Matratzen.

Eine weitere Nacht guten Schlafes lässt uns am nächsten Morgen voller Elan erwachen und frohen Mutes an die vor uns liegende Aufgabe gehen. Juliana und ich machen uns genau um zehn Minuten nach sieben auf den Weg. Unsere Jungs sind zu diesem Zeitpunkt noch nicht ganz mit dem Packen fertig. Das macht aber nichts, denn verlaufen kann man sich ja kaum, wenn man nur dem Flusslauf folgen muss. Noch liegt das Tal im Schatten, und wir kommen gut voran, obwohl es ständig rauf und wieder hinunter geht. Mal verläuft der Pfad auf Flusshöhe, mal blicken wir einige Dutzend Meter von oben auf das reißende Wasser herab.


Nach einer Stunde kommen wir an eine Stelle, an der zwei Täler zusammentreffen. Ich hatte mir vor Beginn der Etappe nochmals die Wanderkarte ganz genau angeschaut und war mir sicher: Ein weiterer Blick ist nicht nötig. Die Karte bleibt in der Tasche, wir setzen den Weg im selben Tal fort. Als die Sonne über die Flanke des Bergzuges wandert, die Gegend von jeglichem Schatten befreit ist, wird es sofort um viele Grade wärmer. Wir sind in der tropischen Klimazone, keine Wolke hat uns an diesem Morgen die Hitze etwas gemildert.


Irgendwann werde ich nervös, unsere Helfer hätten uns eigentlich längst einholen müssen. In einem kleinen Dorf machen wir eine kurze Rast. Es ist inzwischen fast neun Uhr, und die Sonne glüht auf uns herab, als wäre es zwölf Uhr mittags. Alles zieht sich in mir zusammen, als ich dann doch auf die Landkarte blicke und feststelle: Wir hätten in das andere Tal einbiegen müssen. Wie kann man nur so dämlich sein? Es hilft alles nichts, wir müssen umkehren. Insgesamt haben wir drei Kilometer zusätzlichen Weges angehäuft. Auf einem normalen Pfad ist diese Distanz kaum der Rede wert, aber hier in Nepal ist das eine ordentliche Strecke.


Kaum sind wir im richtigen Tal angekommen, sehen wir in der Ferne drei unserer Jungs auf uns zulaufen. Sie haben natürlich gemerkt, dass etwas nicht stimmt und sind uns suchen gekommen. Schön zu sehen, dass man sich auf sie verlassen kann.


Der weitere Tag zieht sich wie Kaugummi in die Länge. Stunde um Stunde kämpfen wir uns voran. Am meisten macht uns die Hitze zu schaffen. Das Thermometer zeigt fast vierzig Grad. An jedem kleinen Bach, den wir passieren, lassen wir kaltes Wasser über unsere Köpfe rinnen und kühlen so etwas ab. Stellenweise ist der Weg kaum mehr als ein kleiner Trampelpfad, der sich durch unwegsames Gelände windet, mit Wurzeln und losem Gestein bedeckt. Oft laufen wir durch Wald, dessen Blätterdach kaum einen geschlossenen Schatten erzeugt. Immer wieder wandert mein Blick die steilen Berghänge empor, welche rechts und links neben uns aufragen. Praktisch überall leben Menschen.



Ich kann kaum glauben, an welchen steilen Hängen kleine Gehöfte an den Abhängen kleben. Terrassenförmig angelegte Felder erlauben den Anbau von Nahrung und Tierfutter an jeder Stelle. Auch hier ist der ursprüngliche Wald stark degradiert. Es ist wenig verwunderlich, wenn man bedenkt, dass alle Bewohner dieser Berge und Täler mit Holz kochen und heizen. So überrascht mich eher, dass überhaupt noch Holz vorhanden ist, schließlich hat das Land eine immense Geburtenrate.


Nepals Bevölkerung wächst ebenso wie die Ansprüche an deren Lebensqualität. Der Druck auf die natürlichen Rohstoffe wird auch in Zukunft weiter steigen, was nichts Gutes für die Wälder verheißt. Die Menschen brauchen Alternativen, zum Beispiel in Form von kleinen Biogasanlagen. Der Dung von zwei Rindern reicht aus, um diesen zu vergären und damit Methangas zum Kochen und Heizen zu erzeugen. Die Anschaffung für solch eine Anlage beträgt etwa dreihundert Euro. Für die meisten Familien eine unerschwingliche Summe. Zum Glück aber gibt es seit Jahren internationale Hilfsprojekte, die genau diese Idee unterstützen. Man kann nur hoffen, dass diese guten Ansätze mit aller Kraft durchgeführt werden, bevor das Ökosystem unter der Last der Nutzer gänzlich zusammenbricht. Schon siebzig Prozent von Nepals Wäldern sind verschwunden oder stark übernutzt. Gerade im Gebirge werden intakte Wälder aber dringend benötigt. Denn ohne Bäume ist der Boden Wind und Regen ungeschützt ausgesetzt, es kommt zu Erosion und Steinschlag.

Vereinzelte alte Bäume gibt es noch. Fast jedes Dorf, das wir passieren, hat in seiner Mitte solch einen Riesen stehen. Diese entsprechen vermutlich den Ulmen, die bei uns in früheren Zeiten den Mittel- und Treffpunkt des Dorfes markierten. Anhand dieser einzigartigen Exemplare ist das ganze Drama zu erkennen, in dessen Zustand sich der Wald befindet. Man muss sie nur mit den Bäumen in den noch vorhandenen Waldresten vergleichen, die die Dörfer umgeben.


Am späten Nachmittag sorgt eine aufziehende Wolkendecke für etwas mildere Temperaturen. Wir passieren eine Seitenschlucht über eine der zahlreichen Hängebrücken und steigen einen Berghang steil nach oben. Oben angekommen, treffen wir auf ein einzelnes Gehöft, vor dem uns ein älterer Herr entgegen lächelt. Als er Juliana sieht, fängt er an, vor ihr zu tanzen und zu singen. Wir freuen uns und lächeln zurück.



Seine Frau, ebenso stattlichen Alters, kommt gerade von den Feldern zurück. Sie trägt ein großes Bündel Gras auf dem Rücken, gehalten von einem Band, das über ihrer Stirn liegt. Das Paar lebt hier ganz allein. Ihre Tagesabläufe gleichen denen ihrer Vorfahren. Sie haben weder Strom noch andere vermeintliche Errungenschaften des modernen Lebens. Einzig einen schwarzen Plastikschlauch, jede Familie besitzt so einen. Damit wird Wasser vom nächst gelegenen Fluss direkt ans Haus gelenkt, und tagsüber, wenn die Sonne darauf scheint, auch ein wenig erwärmt. Die zwei alten Leute wirken überaus glücklich. Es bringt mich mal wieder zum Nachdenken. Vom materiellen Maßstab her sind die beiden bettelarm. Doch wenig zu besitzen, muss nicht bedeuten, unzufriedenen zu sein im Leben. Sind diese Alten aus der Zeit gefallen? Sind wir Kinder der Globalisierung überhaupt in der Lage, den Verlockungen des konsumorientierten Alltags zu widerstehen? Das ist sehr schwer, wie ich im Selbsttest immer wieder feststellen muss. Ich betrachte mich als einen durchaus aufgeklärten und sehr kritischen Konsumenten. Trotzdem kann auch ich so manchen Verheißungen nicht entsagen, besonders wenn es um Dinge geht, die mich begeistern und interessieren. Auch wenn ich nicht jeden Mist mitmache und viele Dinge aus ökologischen Gründen nicht kaufe, so habe ich immer noch einen viel zu hohen Verbrauch von Ressourcen innerhalb meines Alltags. Wäre ich ein Vorbild für die gesamte Menschheit, so würde der Planet praktisch schon heute einer leblosen Wüste gleichen.


Das betrifft nicht nur mich, sondern so gut wie jeden Bewohner der westlich geprägten Industrieländer. Eine Tatsache, die uns alle sehr nachdenklich machen sollte. Wie können wir es schaffen, die Sehnsüchte der ständig wachsenden Weltbevölkerung zu stillen, ohne dabei die Erde völlig zu zerstören? Ich denke, es wird nur gehen, wenn wir unsere Lebensziele überdenken und uns neue Werte verordnen. Für was haben wir in unserer Gesellschaft überhaupt noch Platz, außer der Wirtschaft möglichst hürdenfreie Produktionsbedingungen zu verschaffen? Die Politik, die uns regiert, bewacht und leitet, ist inzwischen in weiten Teilen der Welt von der Knechtschaft der Diktatur befreit und durch Demokratie ersetzt worden. Doch diese ist in solch erschreckendem Ausmaß von den Interessen der Produzierenden geleitet, dass einem wirklich übel werden kann. Solange sich daran nichts ändert, wird auch weiter endloser Wachstum gepredigt, das auf einer Welt mit endlichen Rohstoffen nur im Unglück enden kann. Solche und viele andere Gedanken sind mir auf dieser Reise oft im Kopf umhergeschwirrt. Einer der Vorzüge des langsamen Wanderns ist, dass man viel Zeit zum Nachdenken hat.



Inzwischen sind uns zwei unserer Träger mit einer Kanne Tee und Keksen entgegengekommen, um uns die restlichen Meter zum Ziel der Tagesetappe zu begleiten. Die Burschen sind viel schneller als wir und haben dazu noch Kraft, zu uns zurückzulaufen, um zu helfen. Das werden sie in den kommenden Tagen noch häufiger tun, wir sind darüber immer sehr dankbar. Obwohl uns, zugegeben, in diesen tropischen Lagen eine eiskalte Apfelschorle lieber wäre als der heiße Tee.


Als wir am Abend in einem nicht sonderlich gemütlichen Gästehaus die Wanderschuhe abstreifen, sind wir fix und fertig. Erfreulicherweise hat sich der Zustand von Julianas Füßen nicht verschlechtert, was uns Grund zur Hoffnung gibt. Auch in den kommenden zwei Tagen wird die Hitze unseren Tagesablauf prägen. Wir starten so früh wie möglich, doch natürlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis uns die Sonne ihre volle Kraft entgegen strahlt. Erst ab der vierten Etappe wird es merklich kühler und angenehmer. Zu diesem Zeitpunkt haben wir uns wieder auf zweitausend Meter hochgearbeitet, inzwischen fühlen wir uns fitter denn je.

Ich habe nun kaum noch Zweifel, dass meine wunderbare Brasilianerin auf dieser Wanderung noch sehr weit kommen wird. Wir haben inzwischen einen Kontrollpunkt passiert, an alle Genehmigungen der Wanderer gecheckt werden, und sind innerhalb der Kanchenjunga Conservation Area angekommen. Dieses Gebiet wurde eingerichtet, um die Wälder in den Höhenlagen um das Hochgebirge besser zu schützen. Natürlich leben auch hier oben Menschen, doch sie werden merklich weniger, die Wälder dichter und ursprünglicher. Ich halte die Augen offen, schaue mir die wunderbaren Bäume sehr genau an. Oft sehe ich meterlange Flechten, die sich sanft im Winde wiegen.



Leider gelingt es mir weder beim Aufstieg noch beim Rückweg einen der hier lebenden Roten #Pandas zu entdecken. Diese schönen Tiere leben in Nepal an den Himalaya-Hängen, außerdem in Teilen Chinas und Indiens. Sie ähneln Waschbären und ernähren sich von Bambus. Ich bin wenig überrascht zu erfahren, dass auch sie vom Aussterben bedroht sind. Wilderei und Fragmentierung ihres Lebensraumes durch Waldzerstörung sind wie so häufig die Ursachen für den Rückgang der Roten Pandas und so endlos vieler anderer in freier Wildbahn lebender Tierarten.


Hier oben ist der Pfad erstaunlicherweise besser befestigt als weiter unten im Tal. Immer wieder kommen uns Männer entgegen und junge Burschen mit großen Metallplatten auf den Rücken. Sie tragen Elemente zum Brückenbau die Berge hoch. Egal was sie befördern, sie werden nach Gewicht bezahlt. Der Lohn muss sehr mickrig sein, wenn man sieht, mit welchen Mengen Material sie ihre Gesundheit riskieren. Ab und an werden wir von Kindern begleitet, die sich auf dem Weg zur nächsten Schule befinden.



Ich staune, wie jung manche von ihnen sind und trotzdem weite Wege auf sich nehmen müssen. Die etwas Gewitzteren unter ihnen nutzen die Begegnung mit uns, um ihre Kenntnisse in Englisch zu testen. Das führt teils zu witzigen Wortwechseln. Manche der Kinder tragen Schuluniformen, andere sind in Stoffen gehüllt, die man kaum als Kleidung bezeichnen kann. Das beschränkt sich aber nicht nur auf die Kleinen. Wir treffen auf Familien, die scheinbar jeglichen Halt verloren haben. Faulige Zähne und stumpfe, glanzlose Blicke zeugen von Hoffnungslosigkeit, die mich traurig macht.


Selbst in einigen Gästehäusern ist es so dreckig, dass wir uns kaum darin aufhalten möchten. Wir sehen Kinder, die im Müll schlafen und Eltern, die das offensichtlich als ganz normal empfinden. Gekocht wird am offenen Feuer. Der Rauch schwärzt die Decken und Wände, zerstört die Gesundheit der Bewohner. Natürlich sind die Menschen arm, aber Wasser zum Waschen wäre für alle ausreichend vorhanden. Ob es mit dem auch in Nepal existierenden Kastensystem zu tun hat, dass innerhalb eines Ortes solch unterschiedliche Hygienestandards zu finden sind? Ich weiß es nicht. Ich bin nur sehr betroffen, wenn ich Kinder sehe, die wohl nie eine Chance auf ein menschenwürdiges Leben haben werden.



Nachdem wir morgens mit einer Unmenge an Bissen und Stichen am Körper aufwachen, die wahrscheinlich von Läusen stammen, entschließen wir uns, nur noch im eigenen Zelt zu übernachten. Für mehrere Tage sind wir extremen Juckreizen ausgesetzt, was besonders beim Schwitzen unangenehm ist. Mein Hals und die Arme sind eine einzige Quelle endlosen Verlangens, mit den Fingernägeln darüber zu reiben. Das macht alles noch viel schlimmer.


Kurz nach Tagesanbruch kommt einer unserer Träger ganz aufgeregt zu uns ans Zelt. Er berichtet von einer schlimmen Sache, die passiert sei. Am Vorabend seien sie mit anderen Nepali zusammen gesessen, die an derselben Station übernachtet hatten wie wir. Am frühen Morgen ist einer von ihnen verschwunden, mit ihm eine nagelneue Hose und ein T-Shirt. Was für uns wahrscheinlich nur zu einer kurzen Verärgerung geführt hätte, war für die Jungs ein ernstes Problem. In ihrer Welt haben sie nicht die Möglichkeit, eine gestohlene Hose einfach durch eine neue zu ersetzen. Also machten sich zwei der Burschen auf den Weg, um nach dem Dieb zu suchen. Unsere Träger blieben den ganzen Tag verschwunden.


Erst gegen Abend, als wir fast unserer Etappe beendet hatten, sehen wir die Gruppe zu uns aufschließen. Mir fällt auf, dass ein Mann mehr dabei ist. Er schleppt auch noch den Packsack, den normalerweise der Bestohlene zu tragen hat. Das ist wirklich ein Ding. Unsere Burschen sind heute Morgen also die gesamte Tagesetappe von gestern zurückmarschiert und haben dort tatsächlich den Dieb gefunden. Es war ein Junge, nicht älter als fünfzehn Jahre. Er läuft an uns vorbei, kann kaum seine Tränen unterdrücken, ist aber sichtlich bemüht, Haltung zu wahren. Unsere Träger haben ihn sich geschnappt, lassen ihn nun zur Strafe den ganzen Tag das schwere Gepäck tragen.


Es ist nur zu erahnen, was in Nepal solch eine Tat bei den Betroffenen auslöst, denn der Beklaute war sichtlich sauer. Ich kann ihn, als wir im Camp angekommen sind, davon abhalten, dem völlig erschöpften und eingeschüchterten Dieb mit der Faust ins Gesicht zu schlagen. Zumindest in unserer Gegenwart. Doch dessen Martyrium ist noch nicht vorüber, und die Kräfte der Träger sind scheinbar noch nicht aufgebraucht. Obwohl es anfängt in Strömen zu regnen, die nächste Polizeistation mindestens zwei Stunden entfernt liegt, machen sie sich auf den Weg, den Jungen dort abzuliefern. Ich hoffe wirklich, dass er seine Lektion an diesem Tag gelernt hat. Diebstahl ist in einer Gesellschaft, in der die Häuser praktisch für alle offen stehen, weder hier noch sonst irgendwo akzeptabel.


Nach sechs Tagen erreichen wir die Ortschaft #Ghunsa auf 3400 Metern Höhe. Inzwischen sind wir wieder in der Höhenlage, in der der Rhododendron wächst und auch reichlich in tiefen Rot- und Pinktönen blüht. Ghunsa ist eine tibetische Siedlung, die höchstgelegene auf dem Trail, die ganzjährig bewohnt ist. Eingerahmt von Bergen, die mit teils altem Wald bewachsen sind, fühlen wir uns hier sofort sehr wohl. Wir verbringen unseren nächsten Tag im Ort, um unsere Körper an die Höhe zu gewöhnen. Der Zustand von Julianas Füßen ist zusehends besser geworden, ich bin sehr stolz auf das, was wir bisher gemeinsam geschafft haben. Das Dorf hat elektrischen Strom, der mit einem simplen System aus Wasserkraft gewonnen wird. Eine ökologisch sinnvolle Lösung, denke ich, die es mir zudem ermöglicht, meine Akkus für die Kamera aufzuladen und mit dem Laptop an meinen bisherigen Bildern zu arbeiten. Auf jedem Haus wehen die bunten buddhistischen Gebetsfahnen. Zahlreiche Yaks weiden auf den Wiesen zwischen den Häusern. An den Ohren sind sie geschmückt mit bunten Bändern, die sie hübsch aussehen lassen.


Es sind nicht viele Wanderer, die uns bisher entgegengekommen sind und vom Basislager berichten können. Doch das wenige, das wir erzählt bekommen, hört sich großartig an. Alle sind begeistert von der Schönheit der Ausblicke auf den Kanchenjunga. Was uns besonders freut, ist, dass dort oben ein Deutscher mit langem Bart und noch längeren Haaren unterwegs sei, der wie Jesus aussähe und dem es scheinbar sehr gut ergangen sei. Es ist unser Freund Rolf.

Von hier aus sind es noch vier Stationen bis zum Basislager. Hochgebirge wir kommen! Weiter lesen? Hier geht es zum dritten Teil © Text & Fotos Markus Mauthe


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